„Wir haben den Antriebs-Experten in Software gepackt“

Seit der Hannover Messe werden die Servo-Drives i950 und i700 von Lenze mit einer Funktion zur Selbst-Optimierung ausgestattet. Dr. Johannes Kühn, Abteilungsleiter Regelungstechnik, Motion Control und Robotik, erläutert die Anwendung – und die Konsequenzen in der Praxis.


INTERVIEWER: Lenze bietet jetzt „Auto-Tuning“ an. Nachdem es hier nicht um Renn-Boliden à la „Fast & Furious“ geht, sondern um Industrie-Antriebe: Was genau versteckt sich hinter dieser Funktion?

Dr. Kühn: Vektor-geregelte Antriebe werden allein über den Strom-Vektor gesteuert, dazu muss man lediglich den angeschlossenen Motor kennen. Komplexer geregelte Drives werden dagegen nicht nur über den Strom gesteuert, sondern auch über Drehzahl und Position. Die optimalen Werte zu finden, ist das Tuning der Maschine. Lenze hat es nun geschafft, diesen Prozess zu automatisieren – das ist unser Auto-Tuning.


INTERVIEWER: Warum müssen die Antriebe auf diese Weise optimiert werden?

Dr. Kühn: Letztlich geht es darum, die Präzision zu verbessern. Das kann beispielsweise die genaue Positionierung sein, etwa bei Antrieben in Robotern, oder bei einem Regalbediengerät, das Paletten abstellen und aufnehmen muss, ohne gegen das Regal zu stoßen. Oder das exakte Einhalten der Drehzahl bei einer komplexen Förderstrecke, so dass das transportierte Werkstück tatsächlich zur richtigen Zeit an der richtigen Position ist, und nicht etwa 20 cm zurück. Ziel ist es immer, die Abweichung von Soll und Ist, den Regelfehler, möglichst nahe Null zu bekommen, zugleich aber zu vermeiden, dass die Regelung instabil wird.


INTERVIEWER: Wie sieht der Optimierungsprozess ohne Auto-Tuning aus?

Dr. Kühn: Bislang muss ein auf Regeltechnik spezialisierter Ingenieur ein Modell der Regelstrecke entwickeln, in das alle relevanten Größen eingehen – zumindest in der Theorie. Faktisch muss er aber an bestimmten Stellen Abstriche machen, also vereinfachen, um das Modell handhaben zu können. Aus diesem Modell werden dann die drei benötigten Einstellwerte berechnet. Insgesamt benötigt ein solcher Experte dafür bis zu einem ganzen Tag.


INTERVIEWER: Und mit Auto-Tuning?

Dr. Kühn: Die ist bei der jüngsten Version der Servo-Drives i950 und i700 von Lenze integriert. Hier drückt der System-Ingenieur einen Knopf in unserer Software und nach zirka 60 bis 90 Sekunden hat er eine perfekt eingestellte Maschine. Das heißt, die Performance ist sehr hoch, und die Maschine läuft robust, weil ein hoher Abstand zur Stabilitätsgrenze sichergestellt ist.


INTERVIEWER: Es gibt also einen „Trick“, um sich die aufwendige Modellierung zu sparen?

Dr. Kühn: Wir haben uns auf die Anfänge der Antriebs-Optimierung besonnen, genauer gesagt auf die Schwingmethode von Ziegler und Nichols aus dem Jahr 1943. Damals wurden die drei Werte am laufenden Antrieb so lange verändert, bis die Maschine hörbar in einen instabilen Zustand überging. Gemäß Ziegler und Nichols ist der halbe Wert dann das Optimum für diese Maschine. Menschliches Gehör und menschliche Reaktionszeit sorgten allerdings immer noch für Ungenauigkeiten. Heute verändern wir die Werte per Software und nutzen den Antrieb selbst als Sensor, um den genauen Punkt zu bestimmen, an dem das System instabil wird.


INTERVIEWER: Welche Methode bietet denn die besseren Ergebnisse – Ziegler / Nichols oder die Modellierung?

Dr. Kühn: Zwar geben die Modellierer an, dass sie nur an den Stellen vereinfachen, die für die Berechnung nicht relevant seien. Dennoch entspricht kein Modell 100% der Realität. Die Vernachlässigung des Modells in Bezug auf nichtlineare Effekte wie Reibung, Spiel bzw. Lose im Getriebe und anderen, führen zu erheblichen Abweichungen in der Auslegung der Regelung. Unser Auto-Tuning hat den Vorteil, dass es sich nicht auf das theoretische Modell verlässt und die damit verbundenen Fehler vermieden werden. Die Optimierung wird immer direkt an der fertig aufgebauten Maschine durchgeführt, hat also die reale Regelstrecke als Grundlage. Oder anders ausgedrückt: Wir nutzen nicht eine fehlerbehaftete Abbildung der Realität – sondern direkt die Realität. Dementsprechend können wir uns durch diese Methode dem Optimum weiter annähern.


INTERVIEWER: Sie sagten, Sie nutzen den Antrieb als Sensor. Zusätzliche Hardware muss nicht verbaut werden?

Dr. Kühn: Nein, die Software wertet die Information des Positionsgebers im Antrieb und des Stromflusses aus, weitere Informationen werden nicht benötigt. Dank unserer One-Cable-Technology ist nicht einmal eine zusätzliche Verkabelung nötig, denn die Information des digitalen Gebers wird im Motorkabel übertragen.


INTERVIEWER: Wie wirkt sich das Auto-Tuning in der Praxis aus?

Dr. Kühn: Wir haben im vergangenen Jahr bei vier Kunden in Österreich Vor-Ort-Demonstrationen durchgeführt. Die Maschinen wurden softwareseitig vorbereitet, aber keine Einstellungen verändert. Dann haben wir das Auto-Tuning durchgeführt und den Regelfehler sowie die Performance-Daten vorher und nachher verglichen. Die Ergebnisse sind denen der Regeltechnik-Experten mindestens ebenbürtig. Wir hatten aber auch Verbesserungen von bis zu 10 Prozent bei den Taktzeiten.


INTERVIEWER: Das Auto-Tuning hat also einen direkten Einfluss auf die Kosten?

Dr. Kühn: Ja, und das sogar mehrfach. Zunächst weil die Optimierung zu besseren Ergebnissen führt, wenn etwa der Maschinendurchsatz aufgrund kürzerer Taktzeiten erhöht und damit die Stückkosten gesenkt werden können. Oder wenn die exaktere Positionierung zu weniger Ausschuss beziehungsweise weniger manuellen Nacharbeiten führt. Man darf aber auch nicht vergessen, dass für die Inbetriebnahme bislang immer ein Spezialist hinzugezogen werden musste, der bis zu einem Tag mit der Optimierung befasst war. Auch das sind Kosten, die künftig entfallen. Sie müssen zudem bei der Inbetriebnahme nicht mehr darauf Rücksicht nehmen, wann ein Regeltechnik-Experte verfügbar ist, sondern können schneller den Betrieb aufnehmen.


INTERVIEWER: Ab wann ist der Auto-Tuner verfügbar, und wie können die Kunden davon profitieren?

Dr. Kühn: Bei den Maschinen draußen im Feld genügt ein Update der Firmware des Drives, neu ausgelieferte Antriebe mit unseren Servo-Drives i950 und i700 haben das Update bereits installiert. Dann brauchen Sie nur noch die neuen Versionen unserer Anwendungstools Easy Starter und PLC-Designer. Die sind seit der Hannover Messe 2021 für alle unsere Kunden verfügbar. Damit können Sie das Auto-Tuning aktivieren und so ihre Maschinen blitzschnell optimieren.


INTERVIEWER: Also doch „Fast & Furious“?

Dr. Kühn: Ja, ein bisschen schon.


Hier geht's zum Tutorial: Auto Tuning mit dem Easy Starter

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